Donnerstag, 26. Mai 2016

Auf und ab und auf und ab ...

Alles scheint im Fluß und das auf eine Weise, die zu kommentieren mir echt schwer erscheint.

Letzte Woche bin ich (vor lauter negativer Aufregung?) mal spontan Magen-Darm-krank geworden (so richtig!), diese Woche ist eher eine "alles super"-Stimmung vorherrschend: ich habe Energie für anstehende Dinge usw.

Dabei ist nichts wirklich "super", "klasse", "perfekt".
Vielmehr hat mit dem Bestehen der Grundausbildungsprüfung des THW eine komplett neue Reise begonnen.
Dinge, von denen ich dachte, daß sie nach der Prüfung noch genauso selbstverständlich sein würden (daß ich mich um eine Mitnahme zur Autobahn-Notfallbereitschaft bemühen würde oder daß ich in der Küche helfen würde), sind gar nicht selbstverständlich, sondern finden nicht statt bzw. komme ich nicht dazu, sie anzusprechen.
Das Verhältnis zum "Chef" des Ortsverbandes (im THW-Jargon: der Ortsbeauftragte) ist auch nicht mehr dasselbe, sondern merklich abgekühlt. Und ich scheue mich etwa, das mit der Küche anzusprechen, weil ich Angst habe, daß es sich zeitlich nicht ausgehen könnte mit den normalen Diensten, mit dem Roten Kreuz, mit Verpflichtungen, die sich aus der fixen Idee, doch noch den Rettungssanitäter zu machen, ergeben könnten ...

Dazu kommt dann noch: meine Rolle in der neuen Fachgruppe findet sich erst so langsam. Zunächst ging es jedenfalls mit einer kompletten Funkstille los. Auf die Veranstaltung auf der Theresienwiese durfte ich am 24.4., dem Tag nach der Prüfung, schon mit, aber in den Wochen danach hat bis auf eine einzige Mail wegen eines Vortragstermins keine einzige Kommunikation zwischen mir und dem neuen Chef stattgefunden.
Man fängt dann also an, selbst die Unterlagen zur Basis2-Ausbildung zu lesen und diskutiert darüber auch mit einem Kollegen, der ein halbes Jahr vor mir die Grundausbildung abgeschlossen hat. Oder will sie mit ihm diskutieren, aber er entzieht sich. Sagt, das habe noch Zeit. Oder: ach das da ... - dann geht es um irgendwas, was ihm mit seinen 20 Jahren Rotkreuz-/Feuerwehr-Erfahrung geläufig ist, aber mir nicht.

Lange Rede, kurzer Sinn, es gibt, außer den in den Unterlagen vermerkten Angaben, was vorzutragen sei (kein Scherz!) und wieviele Minuten für welchen Abschnitt einzuplanen sind, keine Infos, was ich wann lerne/können muß und wer mir dabei hilft. Und nicht alle Fachbegriffe werden bei der Lektüre klar.

Ich habe es jetzt einfach aufgegeben, irgendwelche Infos zu wollen, die nicht von selbst herausgerückt werden.

Mehr oder weniger unglücklicherweise fällt dieser ganze Prozeß damit zusammen, daß ich mich auch in anderen Bereichen des Lebens aus dem einen oder anderen Kokon schäle, teilweise ausgerechnet induziert durch meine Chefin bei Auticon, die mich in ihrer nebenberuflichen Rolle als psychologische Therapeutin coacht.
Das gesteckte Ziel: Klarheit und Selbstbewußtsein entwickeln.
Dinge, die ich eigentlich nicht mag.

Aber ich werde tatsächlich ruhiger ... auch ohne, daß sich an den Baustellen wirklich etwas ändert.

Mittwoch, 4. Mai 2016

Warum ich ABA nicht für ganz falsch halte

Ich hätte wohl auch einen anderen Titel für diesen Blogeintrag nehmen können, aber wegen der fortgeschrittenen Tageszeit falle ich lieber mit der Tür ins Haus. Den Titel "Troll" habe ich ja heute Abend schon bekommen, also ist es eh wurscht. Oder?

Ich werde im Folgenden wohl das eine oder andere Detail zu mir erzählen, das der eine oder andere schon kennt. Vermutlich ist dann die Semi-Anonymität dieses Blogger-Accounts komplett hinüber. Sei's drum ...

Wo fange ich an? Vielleicht mit einem (Gedanken-)Bild.

Aktion Mensch e.V. als Förderer eines auf ABA (oder Teilen von ABA?) basierenden "Therapiemodells" benutzten in ihren Argumentationen, warum es dieses Modell nötig und wichtig ist, gern folgendes Bild autistischer Kinder/Menschen: das eines Kindes oder jungen Menschen, das/der/die u.a. Wände mit Exkrementen beschmiert.
Ein sehr drastisches Bild, keine Frage.
Aber - in meinen Augen - eine gute Metapher für unkontrolliertes Schreien "aus heiterem Himmel" und andere Eigenarten, mit denen das autistische Kind/der autistische Mensch gern auffällt. Das meiste ist natürlich subtiler, aber die Reaktion ist - glaube ich - trotzdem immer dieselbe. Man ist bewußt oder unbewußt angewidert.

Ich weiß nicht, ob man sich als erwachsener Autist soweit verstellen kann, daß man unter Normalos gar nicht mehr als seltsam auffällt. Ich kann es jedenfalls trotz aller Bemühungen nicht. Und ich bin 38.

Zurück zu dem Bild mit den Exkrementen. Ich habe wenige Erinnerungen an meine Kindheit, eine, die ich selbst habe, ist aber jene an - sagen wir mal - negative Reaktionen meiner Mutter (und der anderen Erwachsenen im Mehrfamilienhaus) an manchen Sommertagen. Es kam nämlich manchmal vor, daß Klein Hesting gedacht hat, der Weg in die Wohnung im 2. Stock ist zu hoch, und sich in einer Gartenecke erleichterte. Mit einem Häufchen, das dann jemand anderes - in der Regel meine Mutter - wegräumen mußte. Und das ist mehr als einmal im Vorschulalter vorgekommen.

Irgendwann war die Zeit der Prüfungen auf Schultauglichkeit gekommen. Aufgrund des jahrelangen wochentäglichen Aufenthalts in Kindergarten und Krippe hatte ich vermutlich meine Brandmarkung auch schon weg, trotzdem berichtet meine Mutter es so: die Schulbehörde stufte mich als Kandidatin für die Sonderschule ein und nur dem energischen Widerspruch der Erzieherinnen aus dem Kindergarten wegen wurde ich doch auf der Regelschule eingeschult. Da wir in Dresden, also der ehemaligen DDR, wohnten, war das die POS des Stadtteils, die ich bis zum Umzug 1992, also bis zum Ende der 8. Klasse, besuchte. Im Gegensatz zu meiner 2,5 Jahre jüngeren Schwester, einem einen Monat nach ihr geborenen Cousin und dessen wiederum 2 Jahre jüngeren Schwester habe ich mich nicht für die sog. Russischschule qualifiziert, in die man nach der 2. Klasse wechseln durfte, wenn die Noten dies hergaben. Parallel dazu war ich als Spielkamerad innerhalb dieses Quartetts nicht gefragt - meine Schwester entschied einfach, daß ich nicht mitspielen dürfe, wenn sie sich den beiden Jüngeren zuwandte - und sackte im Vergleich notenmäßig immer mehr ab.

Aber immerhin Regelschule. Nach der Achten ging es auf der Realschule weiter und gegen Ende des 10. Schuljahres gab es zur Überraschung meiner Eltern, die sich stark den Kopf über meine berufliche Laufbahn zerbrachen, eine Zulassung zum Oberstufengymnasium in der Kreisstadt. Daraus resultierten drei Jahre Schonfrist, die mich aber, würde ich heute sagen, nicht reifer gemacht haben. Die Ausbildung zur Fachinformatikerin habe ich durchgestanden, die Abschlußarbeit war nur zu 30% fertig, die Abschlußnote eine Drei.

Rückblickend kann ich sagen, daß ich in den Oberstufenjahren zwar auf jeden Fall irgendwie als Freak galt, aber DIE Freaks, das waren andere, meist Jungs. Ich wurde in meiner eher stillen Art nicht so sehr be- oder geachtet. Ich brachte ja auch keine herausragenden Leistungen.

Wer weiß, wo ich gelandet wäre, wenn sich die Schulbehörde anders entschieden hätte. Ich säße - finanziell, in Bezug auf meine soziale Position - vermutlich genauso in der Scheiße wie aktuell, aber mit anderen Voraussetzungen. Eine Uni hätte ich sicher nicht von innen gesehen.

Und das ist eigentlich das, was ich gern jedem autistischen Kind gönne: den höchstmöglichen Bildungsabschluß. Ohne Hindernisse.

Ja, aber wozu dann Therapie, die in ein Verhaltenskorsett zwingt, dem Kind Ruhepausen verwehrt, um zwei oft genannte Kritikpunkte aufzugreifen?

Man könnte - wie es der AfD zugetane Bekannte gern tun - mir vorwerfen, fehl- oder nur teilinformiert zu sein, weil ich nicht ihre Zeitungen lese, sondern nur hin und wieder Beiträge des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zum Thema anschaue, wenn es denn welche zum Thema Autismus und Inklusion gibt.
Ich erinnere mich an einen Beitrag über einen Jungen der 7. oder 8. Klasse, ein kleiner Feynman schien mir das zu sein, aber dieser Junge fiel eben in der Schule auch negativ auf oder kam nicht klar und hatte deshalb einen Schulbegleiter. Mit allen Vor- und Nachteilen. Der Umgang auf dem Schulhof klappte etwas besser, die einzigen Mitschüler, die ihn besuchten, waren drei Mädchen.

Aktion Mensch ist ein gemeinnütziger Verein, nehme ich an, der zumindest teilweise auf Basis von Spenden arbeitet. Ich stelle mir das so ähnlich vor wie bei den Seenotrettern, daß es sich im Fall der Unterstützung für das umstrittene Therapieprogramm um Eine zweckgebundene Spende handeln könnte. Könnte, nicht muß.

Aber ich bin auch derAnsucht, daß Inklusion gegenwärtig nicht alle Probleme der Autisten löst. Daß man Alternativen braucht, um diesem Personenkreis die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, einen normalen Bildungsabschluß, die Berechtigung zum Antritt einer Berufsausbildung usw. Daß Begleitpersonen, selbst wenn sie rund um die Uhr da sind, nicht alles abfangen können.

Ich will nicht per se Aktion Mensch in Schutz nehmen, aber über das Bremer Programm selbst weiß ich (!) zuwenig Bescheid, um es ohne Detailwissen zu verurteilen. In einer Stellungnahme des Autisnus-Verbandes fand ich folgendes (möglicherweise nicht wortgetreues) Zitat: "Das Ziel ist, daß aggressive Stimming zu unterbinden, um die Patienten aus Schleifen herauszuholen." Mit anderen Worten, den Patienten Alternativen zu Rückzug, Autoaggression, Schreien und ähnlichem anzubieten. Daß ein Gehirn lernt, was es oft wiederholt, das war übrigens Stoff meines Bio-Leistungskurses - es ist also keine neue Sache.

Meines Erachtens liegt hier das große Mißverständnis, was vielleicht auch der Grund dafür ist, daß Aktion Mensch sich weigert, mit autistischen Aktivisten zu reden. Es geht nicht darum, das Kind umzuerziehen. Es geht darum, es vor sich selbst zu schützen. Ihm eine Teilhabe an der Welt zu ermöglichen.
Niemand würde widersprechen, einem Epileptiker Antiepileptika zu verschreiben oder einem Depressiven Stimmungsaufheller. Der Effekt auf das Gehirn ist im Idealfall ein ähnlicher.

Für mich ist die Vorstellung, daß ein Kind, das kognitiv dazu in der Lage wäre, an Aktivitäten wie denen der Pfadfinder, der THW-Jugend, einer Jugendfeuerwehr oder einem Sportclub teilzunehmen, das nicht darf/kann, weil es sich nicht bewährt hat, dieses Kind an solchen Aktivitäten teilhaben zu lassen, weil es zu Überforderungsmomenten kommt, sehr schmerzhaft. Ich habe zwar zwei Ausbildungen absolviert, aber beide gegen den Widerstand meiner Eltern, immer wieder zu hören bekommen, es wäre völlig ok, das Studium abzubrechen.

Was ich an Realität zweier autistischer Kinder im Alter von 15 und 16 Jahren mitbekomme, ist folgendes:
- keine Zugfahrten, weil "zu anstrengend"
- keine oder kaum Aktivitäten außer Haus, weil es keine Angebote gibt und auch wieder das Argument "zu anstrengend" im Raum steht
Das eine Kind, Robert Janus (hier der Blog seiner Mutter), habe ich 2012 in München getroffen. Er hat keine Regelschule besucht, kann quasi nicht schreiben und lesen, hat die Freiheit, hin und wieder im landwirtschaftlichen Bereich ein bißchen zu helfen. Ich habe damals angefangen, Briefe zu schreiben, um ihn die eine oder andere Technik nahezubringen, und leider bald wieder aufgehört. Dieser Junge bekommt alles mit. Auch die Ablehnung. Die Dinge, die er nicht machen darf und die ihn dann aufregen.
Von der Tochter einer Bekannten bekomme ich weniger mit, ich frage auch nicht immer nach, es geht mir zu nahe und ich glaube nicht, daß ich fragen könnte, ohne kritisch zu klingen.
Aber Tatsache ist: diese zwei jungen Menschen nehmen nicht normal an der Gesellschaft teil. Und das hat mit der immer wieder geforderten Inklusion nichts zu tun.

Niemand kann mir erzählen, daß die Liebe der eigenen Eltern und Geschwister, sofern es bei normalen Geschwistern autistischer Kinder so etwas wie Liebe gibt, was ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen bezweifle, die Teilhabe an der Gesellschaft ersetzen kann, daß es nicht traurig bis depressiv macht, sich mit seinem Nichtkönnen auseinandersetzen zu müssen.

Es gibt keine Alternative zu dem Ziel, den Autisten auf ein mehr oder weniger selbstbestimmtes Leben vorzubereiten. Und deshalb halte ich jegliche Ansätze, der betroffenen Person nicht zuzumuten, sich anpassen und anstrengen zu müssen, für etwas, was nicht im Sinn der Betroffenen ist.

Es mag übergriffig sein, den Betroffenen im Kindesalter die Entscheidung, ob sie therapiert werden wollen oder nicht, abzunehmen, aber ich halte es für genauso übergriffig, die gegebene Situation hinzunehmen und zu sagen, es geht eben nicht anders.

Eigentlich ist dieser Eintrag jetzt schon lang genug, aber ich bin ja gebeten worden, mich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Also weiter.

Meine erste Quelle:
Fragt Warum - die Gegendarstellung

Ich fange an mit dem Spiegel-Artikel bzw. einem der Kommentare:

Besonders schlimm an dieser ganzen Übertherapiererei, wo das Kind in meinen Augen gegen seine innere Empfindung handeln muss, ist dass das Kind von früh an begreift, dass es nur als Defizit wahrgenommen wird: ständig wird ihm zu verstehen gegeben, dass es so wie es ist, nicht gut ist. Und dass es nur dann geliebt wird, wenn es anders ist. 

Nun, meiner Erfahrung nach erspart das normale Leben dem Autisten diese Erfahrung eh nicht. Egal, wie sehr man ihn zu schützen versucht.

Es bleibt doch auch dabei, daß Autisten zahlenmäßig eine Minderheit sind. Von denen, die nicht wie Autisten denken, werden daher immer mehr da sein. Man muß Kompromisse machen.

Zurück zur Gegendarstellung, die unter anderem dieses Video verlinkt.
Also, vielleicht bin ich ja blind, aber wo in dessen Beschreibung ist ein Bezug zu ABA? Und was genau an der im Video festgehaltenen Situation soll Mißhandlung sein? Daß der Junge vom Vater festgehalten wird, damit er nicht herumtobt und sich selbst verletzt, wie im Text beschrieben?


Über das Video: Das Festhalten von W und das Schaukeln sind die einzige Möglichkeit, ihn aus einem Meltdown herauszubekommen. Zunächst halten wir ihn mit großem Druck fest - damit erfährt er eine tiefe Berührung, die ihm nicht wehtut. Würden wir ihn nicht festhalten, würde er sich selbst hauen, mit dem Kopf gegen den Boden schlagen, sich Haare ausreißen, sich selbst beißen usw. Ist er zu weit im Meltdown drin, dann hilft das Schaukeln in der Decke ihm, sich zu beruhigen und seine Emotionen zu kontrollieren.

Wie viele autistische Kinder ist W nicht in der Lage, seine Emotionen selbst zu kontrollieren und zu regulieren, sich selbst zu beruhigen. Sein Gemütszustand kann von extrem ängstlich, verärgert, gewalttätig bis hin zu übermäßig nett und ruhig reichen.

Der Hund im Video ist sein Assistenzhund, die Schaukel eine Hängematte, die an einem Hills-Schaukelsystem aufgehängt ist.

Es soll Mißhandlung des Kindes sein, daß man ihn festhält, damit er sich nicht selbst verletzt? Ernsthaft, Leute? Es gibt einen Assistenzhund, aber die Eltern sollen trotzdem keine Ahnung von Autismus haben?

Weiter mit dem nächsten Video, das zu einer Reihe von Präsentationsvideos über ABA zu gehören scheint.
Für diejenigen mit langsamer Internetverbindung: ein Junge, ca. 2-3 Jahre alt, spielt ruhig mit einem Straßenpuzzle. Die Mutter bittet es, einen Schluck Wasser zu trinken. Das Kind sagt nein und wird bockig, die Situation eskaliert. Die Mutter packt die Spielsachen weg. So weit, so normal. Ein Kind in der Trotzphase eben. (Das Kind wird in der Beschreibung nicht vorgestellt, ist also erstmal nicht als Autist zu erkennen. Erst im Verlauf des Videos fällt etwa der fehlende Blickkontakt zu den Erwachsenen auf.) Das Kind wirft den Stuhl um, auf dem es bis eben gesessen hat und dank der Untertitel wird kurz klar: die Bezugsperson ist gar nicht die Mutter, sondern die Therapeutin und die richtige Mutter hält sich im Hintergrund. Naja gut. Das Kind setzt sich kurz darauf doch wieder hin, kurz ist Frieden, bis die Therapeutin das nächste Mal verlangt, daß jetzt ein Schluck Wasser getrunken werden soll. Wieder tobt das Kind, rennt weg, wirft sich theatralisch auf den Boden (nicht, ohne sich leicht den Kopf anzustoßen :( ) und im Hintergrund - nicht im Untertitel zu lesen - hört man die Therapeutin sagen, das Kind solle in Ruhe gelassen werden, "auch wenn es schwer ist". Das Kind bleibt also liegen und greint vor sich hin, während die zwei Frauen sich unterhalten. Dann ein Schnitt. Nach etwa 10 Minuten liegt er Junge immer noch im Flur, schaut verunsichert zu den Frauen hinüber. Die Therapeutin: "Ich räume jetzt die Teletubbies raus ... wer ist das?" Der Junge reagiert mit einem lauteren Greinen, erhebt sich schließlich, geht erst in Richtung des freien Stuhls in der Nähe der Therapeutin, entscheidet sich dann aber um und geht zur Mama, sucht ihre körperliche Nähe. Dann will er Nase putzen. "Hol Dir ein Taschentuch, da drüben", sagt die Mama. Auf dem Tisch stehen Küchentücher, die Therapeutin nimmt die Rolle an sich, reißt eines ab, stellt stattdessen den Trinkbecher hin. Das Gesicht des Kindes verfinstert sich sofort. Eine dritte Frau bietet das Wasser an, hält einen Ball außerhalb der Reichweite der Kinderhände. Das jetzt angebotene Küchentuch ist inzwischen uninteressant, der Fokus des Kindes gilt dem Handventilator in der Hand der Therapeutin. "Willst Du damit spielen? Dann trink erstmal was". Was der Junge jetzt auch tut, aber nur einen kleinen Schluck. Später kommt noch ein Teller mit Essen - Happen belegten Brotes - ins Spiel. Als Belohnung für einmal Abbeißen wird wieder der Handventilator gereicht.

Ich finde es ja grundsätzlich falsch, beim Essen Spielzeug anzubieten. Ich kann die Kritik an Videos dieser Art grundsätzlich verstehen, möchte aber zu Bedenken geben, daß es Dinge gibt, über die ein Kind nicht entscheiden kann. Das Trinken gehört für mich dazu - der menschliche Körper ist nun einmal auf Flüssigkeitszufuhr angewiesen. Und ich wage mich noch einen Schritt weiter vor und sage: autistische Eßgewohnheiten nehmen nicht unbedingt auf den eigentlichen Bedarf des Körpers Rücksicht.

Beim zweiten Anschauen des Videos (was zur Inhaltsangabe nötig war) fällt mir auf, daß das Kind offenbar Defizite in der Sprache hat. Es sagt Dinge nach, die die Therapeutin ausspricht und spricht eher Zwei- als Dreiwortsätze.
Ob das auch ein Ergebns der Therapie ist, bleibt offen. Evtl. kann dies im Internet nachgelesen werden, die Videos sind Teil einer Präsentation. Ich gucke lieber weiter ...

Video Nr. 3, dieselbe Therapeutin ("Nadine"), ein anderer Junge, auch etwa 2-3 Jahre alt. Das Spielzeug wird weggenommen, das Kind wird zunehmend aggressiv, wird aus dem Zimmer getragen, kommt wieder, spricht die Wörter der Erwachsenen nach, verlangt das Spielzeug ("Auto, Auto"), setzt sich schließlich wieder hin, wird aber autoaggressiv (Schlagen auf die Wangen), während es gleichzeitig einen Erdnußflip knabbert. "Super, wie ruhig Du bist", sagt Nadine und im selben Moment schreit das Kind lauter "AUTO" und schiebt wieder die Tischdecke vor. "Möchtest Du noch einen Flip?" fragt Nadine, hält ihn dem Jungen hin, der nur "Aua" schreit, auf den Tisch haut, weint, außer sich ist, sich den Kommandos von Nadine verweigert und körperliche Nähe zum Vater sucht. Schließlich klettert das Kind wieder auf den Stuhl, die verlangte Hanuta-Waffel wird endlich angeboten. "Noch eins", sagt das Kind. Aber erst soll es mit der Hand auf den Tisch schlagen. Die Therapeutin hilft nach.
Zwei Monate später (laut Video). Gefilmt werden Mutter und Sohn, die die Zuordnung von Tieren zu Bildern üben. Das Kind wird dazu aus einer Entspannungsphase herausgeholt. Belohnungen gibt es nur in Form von kurzem Streicheln des Kopfes.
Noch einmal vier Monate später. Weitere Übungsszenarien: Körperteile und Tätigkeiten benennen, ersteres gegen Belohnung, ebenso wie das Ausführen motorischer Aktionen (Klatschen, Hüpfen, auf den Tisch klopfen). Daß der Junge für letzteres die linke Hand nimmt statt wie seine Mutter die rechte, wird nicht korrigiert. Es gibt keine Wutausbrüche, aber alles wirkt ein bißchen wie Drill.

Mir geht langsam die Zeit für diesen Beitrag aus, aber ein Video muß noch sein: Nummer 4
Ein größerer Junge, ein männlicher Therapeut. Das Kind spricht keine ganzen Sätze, befolgt nur zögerlich Anweisungen. Der Therapeut macht zweimal Anstalten, den Raum zu verlassen, erst dann gibt der Junge wie verlangt das Spielzeug zurück. Anschließend muß er Tiere benennen, was er schon gut kann.

Ich stimme zu, daß man die Art und Quantität der Intervention fragwürdig finden kann, aber wir werden eh nicht erfahren, ob den gezeigten Kindern ein Leben ohne diese Therapien besser bekommen wäre. Welchen Weg sie dann im Leben eingeschlagen hätten. Das Argument, diese Kinder würden in eine im Erwachsenenalter auftretende Depression gezwungen, finde ich - entschuldigt die Wortwahl - absurd. Das Bewußtsein, nicht an der Gesellschaft teilzunehmen, wird Robert und L. sicher in zehn Jahren auch depressiv machen, wenn es bei ihnen so weitergeht wie jetzt. Wer zwingt die Kinder denn, sich mit einer möglichen Empfindlichkeit gegenüber Tönen, Geräuschen, Berührungen oder anderem auseinanderzusetzen. Der Begriff Spektrum bedeutet doch auch, daß es individuelle Ausprägungen gibt. Von daher finde ich die Aussage, man müsse immer mit einer Berührungsempfindlichkeit rechnen, frech. Bei den beiden kleinen Jungen ist keine negative Reaktion auf das Berühren zu erkennen.

Der SWR hat einmal Menschen porträtiert, die ohne Gehörsinn und blind geboren wurden, in einem speziellen Zentrum, in dem einige solcher Menschen leben: Das Dorf der Stille
Diese Menschen müssen Gebärden oder Blindenschrift lernen. Das klappt bei den meisten gut, aber es bleiben Defizite. Manche Emotionen und Gefühle bleiben in den Menschen drin, denn sie finden/lernen nie die richtigen Gebärden dafür. Ist das nicht irgendwie traurig?

Und dann ist da noch etwas anderes, das mir erwähnenswert scheint, bevor ich mich weiter mit der Gegendarstellung befasse. Ich muß dazu kurz abschweifen. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger kennt wahrscheinlich jeder oder hat schon mal davon gehört. Diese Gesellschaft finanziert sich komplett über Spenden. Spender sind auf den Schiffen als Besucher willkommen (solange kein Einsatz ist), Mitspracherecht haben sie keins, zweckgebundene Spenden sind aber möglich, soweit ich zu wissen glaube. ;) Und natürlich bewahrt die Gesellschaft in der Regel Stillschweigen über die Herkunft der Spenden.
Die Aktion Mensch ist, was ihre Finanzierung angeht, genauso organisiert (wenn man von den Lotterien absieht ;)). Es findet eine projektbezogene Förderung statt, über die Förderung entscheidet ein spezielles Kuratorium. (Satzung der Aktion Mensch)
Es ist, glaube ich, müßig, Details über den Hintergrund der Förderung des Bremer Frühfördertherapieprogramm Autismus erfahren zu wollen. Warum dieses Projekt und nicht ein anderes. Vielleicht haben sich andere Projekte nicht beworben. Vielleicht gab es eine zweckgebundene Spende. Darüber kann man sicher stundenlang mutmaßen, es ändert aber nichts.

Aber man sollte schon darüber nachdenken, was an der Inklusion einem wichtig ist: die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder die Akzeptanz der Eigenheiten.
Nein, ich glaube, ich werde nicht müde werden, darauf hinzuweisen, daß sich beides, wenn auf die Spitze getrieben, ausschließt. Man kann "sich selbst bleiben", aber dann schließt man sich selbst aus der Gemeinschaft aus. Vielleicht holt ein Kind von sich selbst aus Entwicklungsschritte nach, lernt mit 4 Jahren doch noch sprechen, bekommt seine Motorik in den Griff. Darüber ist aber keine Prognose möglich.

Ich gehöre zu der Generation, die in der Kindheit kaum Therapien hatte. Ich war Stammgast bei Hautärzten wegen eines Ekzems, das auch Selbstverletzung gewesen sein könnte. Ich mag mich überhaupt nicht mehr mit meiner Andersartigkeit auseinandersetzen. Ich habe am Beispiel anderer Menschen, die teilweise Mentoren für mich waren oder noch sind, gelernt, daß es kontraproduktiv für die eigenen Ziele ist, wenn man das Umfeld nicht dort abholt, wo es steht. Als ich diesen Artikel gelesen habe, bin ich traurig geworden, werde es jetzt wieder.
Als ich 15 war, stand ich irgendwo zwischen Susanne und Robert. Das hat sich etwas verschoben, aber eine Susanne werde ich nicht mehr. Mein vernachlässigter Haushalt ist seit 19 Jahren stiller Zeuge, meine Finanzen sind es auch. Und ich schäme mich so abgrundtief, daß ich alles tun würde, um anderen Kindern und jungen Erwachsenen dieses Gefühl der Unzulänglichkeit ersparen möchte.

Heutzutage ergreifen Kinder mit Down-Syndrom die Gelegenheit, auf Regelschulen zu gehen - noch vor gar nicht so langer Zeit undenkbar. Was keiner sieht: diese Kinder haben auch einen eng getakteten Stundenplan, bevor sie in die Schule kommen. Logopädie hier, Ergo- oder Physiotherapie da, dazu spezielle Förderprogramme und zusätzliche Arztbesuche. Und trotzdem bleiben ihre Möglichkeiten begrenzt.
Wer kann ausschließen, daß es nicht auch sozialen Druck gibt, den Autisten ähnliches zu ermöglichen? Damit sie nicht mit 20 noch so in sich gefangen sind wie der Junge im ersten Video ...

Die Sache mit der Studienlage -- Autismus ist meines Erachtens tatsächlich zu individuell, daß man belastbare Daten erheben kann. Und ja, für ein frühkindlich-autistisches Kind, das den Weg der ABA-Methode beschreitet, ist jegliche andere Entwicklungsoption verbaut. Aber ich wiederhole mich gern: es ist nicht möglich, eine Prognose zu stellen. Und deshalb sind Argumente wie "das Kind wird schon noch sprechen lernen" meines Erachtens nicht im Sinne der Kinder.

Autismus Kultur schreibt hier folgendes:
Hier sind noch einige: Autismus gleicht einer Tragödie, einem Leiden und Untergang. Entweder sind autistische Kinder durch intensive Frühförderung erfolgreich behandelt oder sie sind zu einem Leben voller Isolation in einer Anstalt verdammt. Autismus ist nicht vereinbar mit Erfolg, Intelligenz, physischer und psychischer Integrität, Würde, Selbstbestimmung und Bildung: entweder bist du autistisch oder du hast Zugang zu diesen Möglichkeiten. Entweder bekommen Autist_innen ABA und werden Nichtautist_innen ähneln, oder sie sind dem Untergang geweiht. Autismus gleicht einer Atombombe, einem Schlaganfall, Diabetes, einer tödlichen Krankheit, einem “von Schmerz infolge eines schrecklichen Unfalls geplagt sein” und wieder, immer wieder, Krebs. Wenn du gegen ABA bist, dann bist du für ein Leben im Heim. Wenn ABA kritisiert wird, dann werden Kinder vernichtet. Autismus ist unvereinbar mit dem Menschsein: entweder bist du Autist_in oder du bist ein Mensch. Wenn einem autistischen Menschen ABA vorenthalten wird, dann wird er damit enden, dass ihn vier große Wärter_innen in einem Wohnheim zu Boden werfen und sich auf ihn setzen.
Nun. Man muß meines Erachtens kein Anhänger der Verhaltenstherapie sein, um sich darüber im Klaren zu sein, daß aber genau dieser Vorwurf - passe Dich an oder verliere - die Realität ist. Wieviele frühkindlichen Autisten im Alter zwischen 20 und 30 sind selbständig im landläufigen Sinne, gehen einer Berufstätigkeit nach, sind nicht depressiv und/oder autoaggressiv?

RTL hat im Sommer 2011 eine (meines Erachtens) recht gute Reihe zum Thema Autismus gebracht. Eine der Porträtierten ist die 21jährige Johanna. Groß gewachsen, nonverbal, als Autistin unter vielen in einer Wohngruppe lebend. Möglicherweise bekommen die geschulten Betreuer etwa 80-85% ihrer Emotionen mit. Der Rest?

Welche Möglichkeiten könnte Inklusion so jemandem bieten?

Ich muß jetzt, nach geschätzt 9 Stunden Schreiben und Recherchieren, wirklich Schluß machen. Als Schlußwort sei mir noch ein Argument gegönnt, das leider immer wieder von den ABA-Gegnern ausgeblendet wird: es ist neurologisch nachgewiesen, daß das Gehirn neuronale Netze durch Wiederholen von Aktionen bildet. Diese Aktionen können das Schaukeln zur Beruhigung, das Verletzen in Angstsituationen, das Üben von Bewegungsabläufen, das Lernen von Zahlen oder (fremdsprachlichen) Wörtern sein. Und für manche Entwicklungsschritte gibt es Zeitfenster, in denen diese optimalerweise genommen werden müssen. Deshalb die Orientierung auf 3-5Jährige. Es geht nicht um Konditionierung, es geht um spätere Teilhabe.

Asche auf mein Haupt, für die Lektüre des Kommentars von Simon Baron-Cohen hat es jetzt nicht mehr gereicht.

Sicher ist ABA nicht der Weisheit letzter Schluß, aber daß man sich jetzt überhaupt darüber unterhält, ob Kinder mit frühkindlichem Autismus zu einer Regelbeschulung hingeführt werden sollen oder nicht - das sehe ich ehrlich gesagt als Fortschritt.